
Finanzkompetenz im Verwaltungsrat
Finanzplanung, Finanzkontrolle und Überwachung der Liquidität
Der VR ist für die finanzielle Gesamtführung der Gesellschaft verantwortlich. Er sorgt dafür, dass die Liquiditäts-, Ertrags- und Vermögenslage der Gesellschaft jederzeit korrekt dargestellt wird und abrufbar ist. Die Ausgestaltung des Rechnungswesens, die Finanzkontrolle sowie die Finanzplanung liegen in der ausschliesslichen Verantwortung des VR (Art. 716a Abs. 1 Ziff. 3 OR).
Darüber hinaus hat der VR die Oberaufsicht über die mit der Geschäftsführung betrauten Personen (Art. 716a Abs. 1 Ziff. 5 OR). Diese Aufsichts- und Kontrollfunktion erstreckt sich auch auf finanzielle Angelegenheiten. Sie soll sicherstellen, dass finanzielle Entscheidungen im Einklang mit den gesetzlichen und statutarischen Vorgaben stehen.
Mit dem am 1. Januar 2023 in Kraft getretenen revidierten Aktienrecht hat der Gesetzgeber die Pflicht zur Überwachung der Zahlungsfähigkeit als Pflicht des VR in das Gesetz übernommen (Art. 725 Abs. 1 OR). Die Pflicht des VR zur Überwachung der Liquidität galt bereits davor. Mit der neuen expliziten Nennung im Gesetz wird der Wichtigkeit der Aufgabe Rechnung getragen.
Eine wirksame Überwachung der Liquidität und damit der Zahlungsfähigkeit der Gesellschaft erfordert eine rollierende Liquiditätsplanung. Der Ansatz der rollierenden Liquiditätsplanung verfolgt eine fortlaufende, periodenorientierte Planung. Dieses notwendige «Alarmsystem» ermöglicht es, Liquiditätsprobleme rasch zu erkennen und darauf reagieren zu können.
Die Fähigkeit des VR zur finanziellen Führung hängt von der Qualität der Reporting- und Informationsstrukturen ab. Ihre Implementierung und Analyse setzen ausreichende Finanzkompetenz voraus. Ohne diese Kompetenz kann der VR seine Führungsaufgaben weder in normalen Zeiten noch in Krisensituationen bewältigen.
Pflichten bei drohender Zahlungsunfähigkeit
Bei drohender Zahlungsunfähigkeit muss der VR Massnahmen ergreifen. Um eine drohende Zahlungsunfähigkeit zu erkennen, muss der VR die Zahlungsfähigkeit der Gesellschaft ständig überwachen. Eine rollierende Liquiditätsplanung schafft Transparenz und ermöglicht das rechtzeitige Einleiten von Massnahmen. Als Massnahme kommt grundsätzlich alles in Betracht, was Liquiditätsabflüsse vermeidet oder verzögert und Liquiditätszuflüsse schafft oder beschleunigt. Konkrete Massnahmen sind bspw.:
- das Aushandeln von längeren Zahlungsfristen
- die Stundung von Zinszahlungen
- das Erhöhen der Kreditlimiten
- die Aufnahme von Darlehen
- das Hinausschieben von Investitionen oder Einkäufen von Waren und Dienstleistungen.
Diese Massnahmen lindern Liquiditätsprobleme kurzfristig, lösen sie aber nicht nachhaltig. Für eine nachhaltige Sanierung muss der VR die Ursachen der Krise analysieren. Auch hierfür ist die Finanzkompetenz des VR entscheidend.
Reichen diese Massnahmen nicht aus, hat der VR beim Gericht eine Nachlassstundung zu beantragen. Hier geht’s zu unserem Blogbeitrag zum Nachlassverfahren.
Massnahmen bei Kapitalverlust
Ein Kapitalverlust liegt vor, wenn die Aktiven abzüglich der Verbindlichkeiten die Hälfte des Aktienkapitals nicht mehr decken. In diesem Fall ist der VR verpflichtet, Massnahmen zu ergreifen, um den Verlust zu beseitigen.
Um einen Kapitalverlust zu beseitigen, kann der VR verschiedene bilanzwirksame Massnahmen ergreifen. Dazu zählen bspw.:
- Auflösung stiller Reserven
- Aufwertung von Grundstücken und Beteiligungen
Ein Kapitalverlust kann auch durch einen sogenannten Kapitalschnitt behoben werden. Dabei wird das Kapital zunächst herabgesetzt und anschliessend wieder erhöht. Alternativ kann eine Kapitalerhöhung durchgeführt werden. Beide Massnahmen müssen vom VR der Generalversammlung vorgeschlagen und von dieser genehmigt werden.
Die Entscheidung, welche Massnahme ergriffen wird, hängt massgeblich von der Finanzkompetenz des VR ab. Nur ein VR mit fundiertem finanziellem Wissen kann die wirtschaftlichen Auswirkungen und die strategischen Vorteile der verschiedenen Optionen richtig beurteilen und die bestmögliche Lösung für die Gesellschaft auswählen.
Bei einem Kapitalverlust ist der VR zudem verpflichtet, die Jahresrechnung vor der Genehmigung durch die Generalversammlung einer eingeschränkten Revision durch einen zugelassenen Revisor zu unterziehen. Diese Pflicht besteht auch dann, wenn die Gesellschaft auf die eingeschränkte Revision verzichtet hat (sog. Opting-out, Art. 725a Abs. 2 OR).
Die Pflicht zur eingeschränkten Revision entfällt jedoch, wenn der VR ein Gesuch um Nachlassstundung einreicht.
Massnahmen bei Überschuldung
Besteht die begründete Besorgnis, dass die Gesellschaft überschuldet ist, muss der VR unverzüglich einen Zwischenabschluss zu Fortführungswerten und Veräusserungswerten erstellen (Art. 725b Abs. 1 OR). Eine Überschuldung besteht dann, wenn die Verbindlichkeiten der Gesellschaft nicht mehr durch die Aktiven gedeckt sind. Der VR muss den Zwischenabschluss zu Fortführungs- bzw. Veräusserungswerten durch die Revisionsstelle, oder wenn eine solche fehlt, durch einen zugelassenen Revisor prüfen lassen. Ist die Gesellschaft zu Fortführungs- und zu Liquidationswerten überschuldet, muss der VR beim Gericht die Bilanz deponieren. Mit dem Deponieren der Bilanz kann der VR entweder den Konkurs oder eine Nachlassstundung beantragen. Diese Pflicht liegt ausschliesslich beim VR. Regelmässig wird der Konkurs angemeldet, ohne das geprüft wird, ob ein Nachlassverfahren das Unternehmen retten könnte. Die Prüfung, ob Aussicht auf Sanierung besteht und eine Nachlassstundung das Unternehmen retten könnte, hängt wiederum massgeblich von der Finanzkompetenz des VR ab.
Die Benachrichtigung des Gerichts ist nicht erforderlich, wenn Gläubiger im Umfang der Überschuldung einen Rangrücktritt erklären oder wenn die Überschuldung voraussichtlich innerhalb von 90 Tagen behoben werden kann, ohne die Gläubiger zusätzlich zu gefährden (Art. 725b Abs. 4 OR).
Haftungsfolgen bei Verletzung der Pflichten
Der VR hat immer mit «gebotener Eile» (Beschleunigungsgebot) Sanierungsmassnahmen einzuleiten oder zu beantragen. Je weiter die Krise fortschreitet, desto geringer wird sein Handlungsspielraum. Insbesondere Pflichtverletzungen oder die Missachtung des Beschleunigungsgebots führen zu Haftungsrisiken für den VR. Stress, Zeitmangel oder mangelnde Fachkenntnisse, insbesondere fehlende Finanzkompetenzen, schützen nicht vor einer Haftung.
Zusätzlich drohen strafrechtliche Konsequenzen. Wenn der VR seiner Pflicht zur rechtzeitigen Einleitung von Massnahmen nicht nachkommt, besteht das Risiko einer Konkursverschleppung. Dies kann dazu führen, dass sich der VR gemäss Art. 165 StGB der Misswirtschaft strafbar macht. Bevorzugt der VR einzelne Gläubiger auf Kosten anderer, kann dies den Tatbestand der Gläubigerbevorzugung gemäss Art. 167 StGB erfüllen.
Fazit
Eine ausreichende Finanzkompetenz im VR ist unverzichtbar. Sie ist die Grundlage für eine wirksame finanzielle Führung der Gesellschaft – insbesondere in Krisenzeiten.
Die Finanzkompetenz im VR ermöglicht es, finanzielle Risiken frühzeitig zu erkennen und rechtzeitig geeignete Massnahmen zu ergreifen. Sie verschafft dem VR den notwendigen Überblick über Handlungsoptionen. Ohne ausreichende Finanzkompetenz wird der VR seiner Verantwortung nicht gerecht und riskiert zivil- und strafrechtliche Folgen.